Die anarchisch-pessimistische Synthese. Eine Skizze
Von Julius Alan Nero
Doch wir wollen hier weder vom anarchistischen Pessimisten noch vom pessimistischen Anarchisten sprechen - damit sei ein jedes Oxymoron mehr oder minder galant umgangen. Dem Leser wird zudem die spitzfindige Verwendung des Adjektivs "anarchisch" anstelle des allseits verbreiterten "anarchistisch" aufgefallen sein - eine mitnichten irrelevante Unterscheidung mit semantischer Tiefendimension.
Der Typus des "Anarchen" nach Ernst Jünger, der einem sofort ins Bewusstsein schießt, soll zwar nicht als der generell bedeutsamste für die Belange des Schreibers gelten, dennoch muss dessen Eigenheit als eine besonders relevante auf das interne Podest gehoben werden. War es doch Jünger, der Max Stirners Egoisten (Eigner/Einzigen) aus den klammernden Klauen Hegels und dessen beständig spukenden Weltgeist entriss (Stirners Verein der Egoisten ist letztlich im Kern, trotz seiner eigenen Hegel-Kritik, eine utopistische, wenngleich nicht "systematisch" ausgeführte Ordnungsstruktur) und damit den Weg für eine neuerliche Rezeption Stirners ebnete. Freilich, eine andere, eine pessimistischere Lesart des Bayreuther Egoisten respektive zumindest eine an sein Denken gemahnende hatte bereits früher eingesetzt; man denke an die epochale Gestalt Nietzsches, ganz gleich, ob dieser Kenntnisse von Stirners Schrift(en) besaß oder nicht, oder an weniger bekannte Denker wie Georges Palante und später Laurance Labadie. Aber Jünger kommt das Verdienst zu, den Egoisten in seinem literarischen Spätwerk "Eumeswil" in den Blickpunkt jenseits akademischer und subkultureller Diskurse gerückt zu haben.
Doch dies ist im Verhältnis betrachtet ein Verdienst von lediglich sekundärem Rang. Vielmehr gilt es die bereits vermerkte (und weiter zu verfolgende) Loslösung aus dem Hegel'schen Geschichtsoptimismus und zugleich die anthropologische Einsicht zu würdigen, dass wie auch immer verortbare Mehrheiten a priori nicht befähigt sind, egoistische Bünde/Vereine zu gründen, ohne beständige Verwerfungen zu provozieren, welche final in einem "Anarchismus" vulgärster Natur münden würden, sehr vereinfacht gesprochen.
Die Losung liegt also im Einzelnen selbst, im Solitär. Es kann ihm kein Anliegen sein, ein neues System, eine neue Gesellschaftsstruktur angesichts ewig wiederkehrender Zumutungen zu schaffen - das Gespenst des chiliastischen Utopismus und des Fortschritts, das auf allerlei Phantasmagorien beruhende Konzept der Veränderlichkeit der conditio humana lauert hinter jedem toten Winkel, gleichsam eines abgehalfterten, geschundenen trojanischen Pferdes. Wiewohl Stirner dergleichen vordergründig nicht in den Sinn kam, so wäre ihm ein neues Ordnungskonzept tatsächlich nichts anderes als eine weitere fixe Idee gewesen, scheint unterschwellig die Hoffnung auf eben jene egoistischen Vereine immer wieder in seinem Werk durch, und das nicht im Sinne einer Herausbildung abseits der Allgemeinheit stehender Zirkel, sondern als gesamtgesellschaftliches Konzept.
Der Solitär muss bestrebt sein, die mannigfaltigen inneren und äußeren Ketten zu sprengen, ganz gleich von welcher Natur sie auch sein mögen, um das - jenes viel bemühte, ambitionierte und gewiss abgeschmackte Wort sei verziehen - "aristokratische" Element seines Wesens Geltungsvorrang zu verschaffen. Erst die Herrschaft über sich selbst, welche in späteren Betrachtungen noch detaillierter anzuschauen sein wird, ermöglicht einen weitgehend souveränen Umgang mit staatlichen Restriktionen, den Umgang mit den selten geschätzten Mitzweibeinern und dergleichen Impertinenzen.
Und doch sind die Probleme, die ewigen Zugeständnisse und das Verzweifeln am Zustand des Status quo vorwiegend Merkmale eines zwar (nicht zwingend) oberflächlichen, aber doch nur einen Teilbereich umfassenden Kulturpessimismus, der seine Kritik nicht zu einer fundamentalen ausweitet, sondern in der Hauptsache auf geschichtsphilosophische und nur in Teilen auf anthropologische Dimensionen zielt, die ontologische Perspektive oftmals gar in Gänze verhehlend. Nicht allein der Blick auf die Kultur, auf jene sogenannte amorphe Masse und auf den desaströsen Zustand der Politik sind hier indes alleinige Betrachtungsgegenstände, sondern auch die Leiden des nichtmenschlichen und menschlichen Individuums am Daseinskampf an sich. Das stetige, niemals endende Aufeinanderprallen von egoistischen Einzelinteressen in der Natur führt notwendig zur schlechtesten aller möglichen Welten, wie es Schopenhauer prägnant in Anlehnung an die unmögliche, gegenteilige Leipniz'sche Sentenz auf den Punkt zu bringen wusste.
Wie geht dies nun aber zusammen? Den Egoismus des Solitärs einerseits als lobendes Moment herauszustellen und andererseits jenes zentrale Element aller (teil-)bewussten Lebensformen als einen der Urgründe des entschieden Negativen ins Fadenkreuz zu rücken?
Vom Egoismus im eigentlichen Sinne ist für unsere Begriffe nur dann zu sprechen, wenn die Eigenheit eines Individuums jenseits aller gattungsspezifischen Instinkte und Triebe zum Vorschein kommt, es sich demgemäß vom Dominanzanspruch vulgärster Bedürfnisse befreit hat. Naturgemäß umfasst dieser Anspruch den Willen zu einem asketischen Imperativ, wenngleich im entfernteren Sinne. Die totale Brechung des (Schopenhauer'schen) Willens zeitigt zwar das unumstößliche Idealbild, doch ist jener Schritt nicht notwendig, um Souverän seiner selbst zu werden, zumal auch ein disziplinierter Connoisseur seinem Verlangen Einhalt zu gebieten vermag, nicht sklavisch seiner Gier frönt und die Maxime voranstellt, auch ohne dieses oder jenes temporäre Genussmittel - welcher Gestalt auch immer - leben zu können. Der Solitär/Egoist ist Herr über seine Bedürfnisse, nicht vice versa.
Wir sehen also, dass die nicht selten in Hypokrisie mündenden Stigmatisierungen des sogenannten egoistischen Individuums zuvorderst aus Begriffsirrungen resultieren; zukünftig gilt es demgemäß zwischen dem vulgären und "aristokratischen" Typus des Egoisten zu unterscheiden. "Sie sind ja nichts als ein Nietzsche-Epigone!" Spätestens jetzt, wenn nicht schon viel früher im Text schoss Ihnen sicherlich dieser oder ein dergleichen Gedanke durch Ihre Gehirnwindungen. Aber nein, trotz mannigfaltiger Gemeinsamkeiten scheiden sich die Wege im Hinblick auf einen zentralen Topos in Nietzsches Werk: dem (absoluten) Willen zur Macht und die damit einhergehende Bejahung des Daseins (dem inhärenten dialektischen Spannungsverhältnis zwischen Eros und Thanatos zum Trotze). Stoische, jenseits aller Larmoyanz weilende Negation des perfiden, sich endlos repetierenden organischen Veitstanzes und ein persönliches Ethos jenseits aller Moralismen, Ideologien und religiöser Irrlehren sind dem Dasein entgegenzusetzen, ohne notwendig in Muster zu verfallen, welche aus dem Ressentiment herrühren; kurzum, ein verneinender Pessimismus der Stärke.
Unser Pendel schwingt somit oftmals zwischen aktivem und passivem Nihilismus, auf keiner Seite dogmatisch ausharrend. Inkonsequent? Inkonsistent? Selbstwidersprüchlich? Vielleicht, aber es gilt generell auf Distanz zu den allerorts zu rigiden Systemen ausgeweiteten Theoremen zu gehen, unabhängig von den eigenen Affinitäten, denn auch die hehrsten Wahrheitansprüche scheitern stetig krachend an den Realien. Lediglich das auf sich selbst zurückgeworfene solitäre Individuum bleibt und mit ihm seine innere Gewissheit, Souverän seiner selbst zu sein - und sei es final in der Entscheidung, den infernalischen, das Ego immerzu malträtierenden Daseinsumständen durch Vernichtung seiner selbst zu entgehen. Indes gilt es zuvorderst Maximen zu finden, den Willen zu jenem absoluten Schritt wenigstens vorerst ins Verlies zu sperren und ein stoisches, gleichmütiges Fundament inmitten seiner Vorstellungswelt zu errichten - und damit das Dasein als sein Eigentum zu erachten und es gleichzeitig mit kaltem Blick zu verachten lernen... oder um es mit den Worten des großen Dada-Dandys Jacques Rigaut zu sagen:
"Es gibt keinen Grund zu leben, aber auch keinen Grund zu sterben. Der einzige Weg, wie wir unsere Verachtung für das Leben noch zeigen können, ist, es zu akzeptieren. Das Leben ist die Mühe nicht wert, es zu verlassen. Aus Nächstenliebe könnte man einigen Menschen die Mühe des Lebens ersparen, aber was ist mit einem selbst? Verzweiflung, Gleichgültigkeit, Verrat, Treue, Einsamkeit, die Familie, Freiheit, Gewicht, Geld, Armut, Liebe, Lieblosigkeit, Syphilis, Gesundheit, Schlaf, Schlaflosigkeit, Sehnsucht, Impotenz, Plattitüden, Kunst, Ehrlichkeit, Schande, Mittelmäßigkeit, Intelligenz - nichts, worüber man Aufhebens machen müsste. Wir wissen nur zu gut, woraus diese Dinge bestehen, es ergibt keinen Sinn, ihnen Beachtung zu schenken."
(Der Essay erschien zuerst in "Der Solitär", Jahrgang 1 (2020), Heft 1.)